Einschulung
geregt, aber auch neugierig. Meine Mutter dagegen übermittelte mir ganz andere
Stimmungen. Jetzt muss ich ihn da alleine reingehen lassen, hoffentlich passiert
ihm nichts. Ich merkte auch, wie meine Mutter versuchte, damit umzugehen. Schon
das Frühstück verlief anders. Es gab Ei und sogar Nutella. Am Abend davor wur-
de das Auto geputzt und ausgesaugt. Ich wurde sogar komplett neu eingekleidet.
Trotz des Wissens, dass diese Gefühle von meiner Mutter kamen, nahm ich sie an,
und ich litt. Ich bekam einen trockenen Mund, nasskalte Hände und Herzklopfen.
Ich verspürte sogar eine leichte Panik.
Mir war klar, wenn ich es schaffe, meiner Mutter diese Angst zu nehmen, geht
es auch mir besser. »Ich schaffe das schon, Mama. Ich bin doch schon groß und
bin schon ganz gespannt auf meine Schulkameraden.«
Schlagartig bemerkte ich eine Verbesserung. Ich war also auf dem richtigen
Weg. Viel schlimmer war es aber dann, als meine neuen Mitschüler und deren
Eltern mit im Klassenzimmer waren. Von überall her strömten Angstgefühle und
Stimmen auf mich ein. Das lenkte mich so sehr ab, dass ich dem Geschehen vorn
an der Tafel nicht mehr folgen konnte. Die Versuche, die Ohren zuzuhalten, zeig-
ten auch keinerlei Erfolg. Ich zitterte am ganzen Körper und hätte beinahe ange-
fangen zu weinen. Wie mag das wohl auf Außenstehende gewirkt haben? Doch
das interessierte mich in dem Moment nicht. Völlig abwesend und apathisch saß
ich da und versuchte krampfhaft, mich abzulenken. Eine kleine Besserung ver-
spürte ich, als meine Mutter mir sanft erst über den Kopf und dann über die Hand
streichelte. Ich redete mir ständig ein: Das ist nicht meine Angst, das sind nicht
meine Gefühle. Je mehr ich mich mit meiner Angst beschäftigte, umso schlimmer
wurde es. Dann versuchte ich es anders. »Mir geht es gut, ich bin mutig, ich schaf-
fe das.« Nach und nach konnte ich meine Augen von dem fixierten Punkt an der
Tafel lösen und schweifte mit meinen Blicken durch den Raum und zu meinen
Schulkameraden und deren Eltern. Umso verblüffter war ich, als ich merkte, dass
ich, wenn ich mich auf eine einzelne Person konzentrierte und diese fixierte, de-
ren Angst stärker hörte und fühlte, und die der anderen wurde schwächer. Ja, mir
schien, dass das Ringsherum nur noch ein monotones Grummeln war. Mit der
Zeit schaffte ich es, auch noch dieses Grummeln komplett auszublenden. Ich ließ
meinen Blick konzentriert weiterschweifen. Das Interessante daran war, dass die
Intensität dessen, was ich empfing, doch sehr unterschiedlich war. Ich bräuchte
mir also nur jemanden rauszusuchen, der am wenigsten Angst aussendet, und mir
würde es dann auch leichter fallen, damit umzugehen.
Mein Blick und meine Konzentration verharrten letztendlich bei Martin. Von
ihm kamen die wenigsten und schwächsten Signale, im Gegensatz zu denen von
Torsten. Auch die Haltung und der Blick waren total gegensätzlich. Gerade als ich
mir die Frage stellen wollte, warum die zwei Jungs, die nebeneinander saßen, so
unterschiedliche Intensitätsgrade aussenden, stellte ich einen Zusammenhang mit
deren Eltern fest. Nicht nur Martin, nein, auch seine Eltern waren viel entspann-
ter und gelassener als die Eltern von Torsten. Ob es den beiden Jungs etwa genau-
so wie mir geht? Können sie etwa auch die Ängste von anderen Menschen miter-
leben, vielleicht würde dieses Gefühl einfach nur von den Eltern auf die Kinder
vererbt oder durch Vorleben und Einreden injiziert. Ich blieb dann mit meinen
Gedanken bei der Familie von Martin und konnte damit sogar den eigentlichen
Akt der Einschulung wahrnehmen. Auch die Erfahrung, dass durch bloße Berüh-
rung, sei es auf dem Kopf oder auf der Hand, eine gewisse Beruhigung und Ent-
spannung eintrat, half mir und anderen später noch oft. Witzigerweise wurden
gerade diese zwei Jungs, so unterschiedlich sie auch waren, meine besten Freunde,
und sie begleiteten mich durch mein Leben, bis heute.
Der erste Tag war geschafft. Am nächsten Morgen, ich lag noch im Bett, stieg
ein Gefühl in mir auf, das neu war. Ich hatte Angst, und zwar vor der Angst. Es
wurde immer schlimmer, und ich steigerte mich immer mehr hinein. Erst als
ich mir bewusst meine Fortschritte im Umgang mit der Angst und die Erfah-
rung der gestrigen Einschulung vor Augen hielt, beruhigte ich mich wieder. Ich
denke, wenn ich es an diesem Morgen nicht geschafft hätte, wäre ich verrückt
geworden und unter Drogen- oder Medikamenteneinfluss in der geschlossenen
Anstalt gelandet.
Ja, ich war sogar stolz auf mich und begann, mich langsam damit abzufinden.
Ich war fasziniert, wie ich allein durch meine Gedanken meine Gefühle steuern
kann. Es reizte mich, mehr darüber zu erfahren und auszuprobieren. Durch meine
bewussten Gedanken schaffte ich eine Abwehr und Schutz vor den Ängsten der
anderen. Ich nahm sie wahr, aber sie belasteten mich immer weniger. Sie halfen mir
auch bei meinen eigenen Ängsten.
Meine Schulkameraden mochten mich, ich sei so einfühlsam und verständnis-
voll. Ich fand vor Klassenarbeiten und Prüfungen bei den Ängstlichsten die rich-
tigen Worte und Gesten. Ja, ich möchte behaupten, ich perfektionierte im Laufe
der Jahre den Kampf gegen die Angst und die Möglichkeiten der Manipulation
mit ihr.
Beim Zahnarzt
seit zwei Tagen unter höllischen Zahnschmerzen. Alle Versuche, sie loszuwerden,
scheiterten, nur die Kühlkissen linderten die Schmerzen ein wenig. Als meine
Mutter mit dem Vorschlag kam, zum Zahnarzt zu gehen, war ich froh und er-
leichtert. Und doch hatte meine Mutter Angst.
Wir waren kaum in der Praxis, da ging es los. Ein Gewitter aus Angst prasselte
auf mich ein. Mir gegenüber saß eine junge Frau, der man die Angst auch richtig
ansehen konnte. Sie zitterte, verkrampfte ihre Hände in der Lehne und stierte in
eine Richtung. Jedes Mal, wenn aus dem Behandlungsraum das unangenehme
Surren des Bohrers zu hören war, zuckte sie zusammen und krallte ihre Hände
noch tiefer in die Lehne. Bloß nicht bohren, alles, nur keine Spritze, hoffentlich ist
heute alles in Ordnung und ich kann wieder raus hier. Sie schaffte es nicht, sich
zu beruhigen oder abzulenken. Im Gegensatz zu dem Mann, Anfang vierzig, er
konnte sich sehr gut verstellen. Ein Glück, dass das Leseangebot in einem neut-
ralen Umschlag eines Lesezirkels eingebunden war und dadurch niemand merk-
te, dass er sich seine Ablenkung dadurch verschaffte, dass er eifrig die »Praline«
durchforstete. Bei ihm kamen neben der Angst vor Schmerzen auch noch die vor
dem Erwischtwerden dazu. Hoffentlich sieht man es mir nicht an, was ich gerade lese beziehungsweise anschaue. Es wäre mir peinlich, ich trau mich ja nicht einmal, so eine Zeitschrift im Laden zu kaufen. Jetzt bloß nicht groß werden, ich bin bestimmt gleich dran. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wovor er überhaupt Angst hatte.
Auch die Mutter, die mit ihrer etwa vierjährigen Tochter zum Zahnarzt musste,
hatte Angst. Die Versuche, ihr Kind zu beruhigen, bewirkten genau das Gegenteil.
»Du brauchst keine Angst zu haben, er wird bestimmt nicht bohren, es wird nicht
wehtun!« Das brachte das Kind erst recht dazu, über die Angst, das Bohren und
die Schmerzen nachzudenken. Je mehr die Mutter auf sie einredete, umso größer
wurde ihre eigene Angst.
Langsam stieg die Angst in mir auf. obwohl ich noch keinerlei Erfahrung mit
einem Zahnarzt hatte. Im Gegensatz zu der jungen Mutter des Mädchens fand
meine Mutter die richtigen Worte, mich zu beruhigen. Sie sagte nicht viel, sie
nahm meine Hand und sprach: »Alles wird gut.«
Dann war ich an der Reihe, meine Mutter sollte draußen warten. Die Sprech-
stundenhilfe begleitete mich in den Behandlungsraum und setzte mich auf den selt-
sam anmutenden Stuhl. Mein Gefühl war alles andere als mutig und zuversichtlich.
Ich bekam eiskalte Hände, einen trockenen Mund und mein Herz drohte, meinen
Brustkorb zu zerbersten. Erstaunlicherweise hatte ich überhaupt keine Zahnschmer-
zen mehr. Auch der Zahnarzt war sehr nett und redete, genau wie die Schwester,
beruhigend auf mich ein. Der Mundschutz, den er dann überzog, ließ ihn noch
beängstigender ausschauen, obwohl ich nicht genau wusste, wofür dieser gut war.
Wollte er sich vor meinen Keimen schützen oder mich vor seinem Mundgeruch.
Dieser war eine Mischung aus Kaffee, Zigaretten und dem üblichen Mundgully.
Nachdem die schmerzende Stelle in meinem Mund lokalisiert war, ging alles sehr
schnell. Das Bohren, das bei so vielen die schlimmsten Angstzustände verursacht,
fand ich nicht mal so schlimm. Erst als er den Nerv traf und ich zusammenzuckte
und verkrampfte, wusste ich, warum. Dann kam die Füllung und ich konnte
gehen. Es war also dann doch alles halb so schlimm und meine Zahnschmerzen
ließen langsam nach. Zu Hause zog ich mich wieder in mein Zimmer zurück.
Je mehr Erfahrungen ich mit meiner Angst und der Angst der anderen machte,
umso größer wurde der Wunsch, anderen mit Angst erfüllten Menschen zu helfen
und eventuell auch meinen eigenen Nutzen daraus zu ziehen. War dies vielleicht
sogar der Grund für meine Fähigkeiten?
Schule
versuchte, bessere Noten zu erschummeln. Keiner konnte seine Angst vor dem
Erwischtwerden verbergen, obwohl mir schon manchmal der Gedanke kam, Mit-
schüler, die ich nicht besonders leiden konnte, zu verpetzen. Aber ich sah auch
meinen Beliebtheitsgrad dadurch schwinden. Die Tatsache, es zu können, wenn
ich wollte, befriedigte mich ja auch.
Eine weitere Frage konnte ich mir aber nach wie vor nicht beantworten. War-
um treten gerade die Dinge, vor denen man Angst hat, auch häufiger und tatsäch-
lich auf, oder warum passiert genau das Szenarium, das man sich angstvoll vorge-
stellt hat? Mich wunderte auch, dass meinem Freund Torsten mehr unangenehme
und unerfreulichere Dinge passierten als Martin. Im Gegensatz zu dem vom Pech
verfolgten Torsten sprach man bei Martin von einem Glückspilz. Sehr schnell
brachte ich diese beiden Gegebenheiten in Zusammenhang. Man könnte jetzt
aber auch glauben, dass Torsten auch eine besondere Art von Begabung besitzt
und in die Zukunft schauen kann und er seine Pannen im Voraus wusste, aber un-
term Strich passierten ihm doch deutlich mehr unangenehme Sachen als Martin.
Mir wurde schnell klar, dass das Geschehene nicht eine Vorahnung auf eine
schreckliche Zukunft, sondern eher ein Produkt unserer ängstlichen Gedanken
ist. Aber warum tut man sich so etwas an? Ich kann es doch selbst steuern!